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Text von Barbara Sorino

Lucas hat keine Träume oder Pläne. Er lässt das Leben auf sich zukommen. Dabei treibt es ihn immer wieder in den Schnee. Ins Eis. In den Fels. Solange es geht, möchte er einfach weiter klettern und die Natur geniessen.

Eigentlich wollte Lucas nie Bergführer werden. Diese Branche war ihm irgendwie zu hochnäsig. Aber dann, 1997, auf einer Bergtour im Wallis, brannte sich ein Bild auf ewig in sein Herz ein. In dem Augenblick, als Lucas unterm Matterhorn wanderte und das Obergabelhorn und die Wellenkuppe erblickte, war es um ihn geschehen. Obwohl er sich damals nicht richtig vorstellen konnte, wie es sein wird, Leute in den Bergen herumzuführen, beschloss er an jenem Sommertag, es einfach zu probieren. Er meldete sich beim Schweizer Bergführerverband an und drei Jahre später war er eidgenössisch geprüfter Bergführer.

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Vor dieser schicksalhaften Bergtour reiste Lucas zwei Monate durch die USA, wo ihn angeblich die totale Freiheit erwartete. Lucas fühlte sich aber alles andere als vogelfrei. Überall, wo er seinen Fuss hinsetzte, musste er sich registrieren lassen und dafür auch noch bezahlen. Zurück in der Schweiz, im Wallis unterm Matterhorn, wurde ihm bewusst, wie schön es zu Hause ist. Es ist zwar alles geordnet und es gibt keine Wildnis, aber man kann einfach loslaufen und machen, was man will, ohne dass man zuerst einen Kontrollposten überwinden muss.

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Schon als Schulkind waren Lucas alle Arten von Regeln und Einschränkungen zuwider. Obwohl er Legastheniker war, schrieb er leidenschaftlich gerne und seitenweise, ohne Rücksicht auf Grammatik und Rechtschreibung. Es kümmerte ihn nicht, dass seine mit blauer Tinte geschriebenen Aufsätze am Ende knallrot waren. Offenbar waren seine Aufsätze inhaltlich so gut, dass seine Lehrerin sie alle nochmals abschrieb, damit man sie lesen konnte.

Lucas war ein Fensterplatzschüler, der sich mehr dafür interessierte, was sich draussen abspielte. Und er war ein Macher, der gerne bastelte. Den ganzen Rest ignorierte er hartnäckig. Dermassen hartnäckig, dass er in ein spezielles Internat wechseln musste. Dort fühlte er sich wohl. Beim Wechsel in die Oberstufe wollte man ihn deshalb nicht zurück in die öffentliche Schule schicken. Ein Legasthenie-Attest ermöglichte ihm den Zugang zur Ecole d‘Humanité in Hasliberg. Dort konnte er ganz der Naturbursche sein, der er war, und darin weiter aufblühen. Damals kam Lucas auch zu seinem Übernamen. Weil er nämlich immer seine Finger in den Töpfen hatte, bevor Essenszeit war, nannte man ihn Geier. Daraus wurde dann später Lucas der Mountaingeier.

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Zu Hause in Unterägeri, wo Lucas aufgewachsen ist, verbrachte er mehr Zeit im Freien als im Haus. Er hockte stundenlang in den Bäumen, mit seinen Seilen, vergnügte sich in der Pfadi, oder paddelte alleine bei Föhnsturm um den Ägerisee, obwohl er nicht schwimmen konnte. Das Wilde und Urwüchsige zog ihn magisch an. Er liebte den Kampf ums Überleben. Gleichzeitig hatte er das Gefühl unzerstörbar zu sein. Das liess ihn vermutlich so sicher erscheinen, dass sogar seine Mutter ihn machen liess. Sie beschwichtigte immer wieder besorgte Nachbarn, die sich Sorgen machten um Lucas, der gerade auf irgendeinem hohen Baum herumturnte. Lucas fühlte sich dort oben wie auf einem Piratenschiff, das von haushohen Wellen hin und her gerissen wird. Hoch überm Boden baute er eine Plattform mit Zelt und eine Seilbahn hinunter zur Thuja-Hecke. Zwischen Plattform und Seilbahn vollführte er zirkusreife Nummern, die wiederum die Nachbarn zum Telefonhörer greifen liessen. Doch seine Mutter liess ihn gewähren und vertraute seinen Instinkten. Und tatsächlich, es ist immer gut gegangen.

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Manchmal aber waren auch Schutzengel am Werk. Einmal ist er mit einem Kollegen in einer fast überhängenden Wand am Matterhorn festgehangen. Lucas sass auf einem brüchigen Felsband und sein Kollege konnte sich nicht mehr aus eigener Kraft hinaufziehen. Mehr schlecht als recht hat ihn Lucas von oben her gesichert. Er war sich bewusst, dass die seitlich platzierten Keile jederzeit wegrutschen konnten und sie dann beide aus der Wand katapultiert würden. In diesem Moment fragte er sich schon, was um Himmels willen er da tut!

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Lucas war inzwischen auf allen Viertausendern der Schweiz, circa 49 an der Zahl, exklusive Neben- und Hintergipfel, die er auch noch bestiegen hat. Von den 83 Viertausendern in den Alpen fehlen ihm noch drei. Lucas hat hohe Berge in Afrika, Alaska, Nepal, China, Peru und Argentinien bezwungen. In Neuseeland erschien ein Artikel über ihn und seine damalige Freundin, weil sie in neun Tagen so viele Gipfel bestiegen hatten, wie ein neuseeländischer Alpinist in seinem halben Leben nicht. Letztes Jahr führte Lucas im Auftrag einer Schweizer Agentur eine erfolgreiche Expedition auf den 7075 Meter hohen Satopanth in Indien. Auch als Schauspieler für einen Werbefilm einer internationalen Consultingfirma ist er schon Felswände hinaufgeklettert. Und als gelernter Metallbauschlosser war er prädestiniert, als Fotomodel für einen Werkzeug-Katalog der Firma Swiss Tools zu posieren. Seine geliebten Berge nehmen sogar Einfluss auf sein Privatleben. Auf dem Kilimandscharo lernte er seine heutige Frau Franziska kennen.

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Von allen bisher bestiegenen Gipfeln ist und bleibt der Eiger sein Lieblingsberg. Da muss Lucas nämlich nicht weit laufen. Er kann ihn direkt erklimmen. Als er bei seiner ersten Solobesteigung 1991 auf das Gipfeleisfeld trat, da entfuhr es ihm laut: «Ja, der kleine Geier hat es geschafft, die Eiger Nordwand, alleine!» Lucas war zu Recht stolz auf sich. Aber wären da nicht seine Gäste, betont er, wäre er zu faul, selbständig zu Berg zu gehen. Er ist nämlich mehr der Kletterer und ausserdem ein wilder Hund. Wenn er nicht Bergführer geworden wäre, hätte er wahrscheinlich seinen vierzigsten Geburtstag nicht erlebt. Seine Kunden verlangen heute zwar immer mehr nach absoluter Sicherheit und grösstmöglichem Abenteuer – ein Spagat, den er als Bergführer stets von Neuem meistern muss. Aber unterm Strich sind überhöhte Risiken gar nicht nötig, weil die Wünsche der Gäste dies gar nicht verlangen. Alleine würde er höhere Risiken eingehen.

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Lucas orientiert sich nicht an irgendwelchen fixen Vorstellungen oder Plänen. Er geht diesbezüglich mit Einstein konform, der einmal sinngemäss gesagt haben soll, es sei schwieriger, eine vorgefasste Idee zu verwerfen als ein Atom zu zerstören. Als Bergführer müsse er offen sein, links und rechts Auswege erkennen, für seine Gäste vorausdenken. Denn diese sehen erstmals nur den Schnee, den Pulverhang, die tolle Abfahrt. Lucas spricht von Risikomanagement und meint damit, dass er als Bergführer flexibel und improvisationsfreudig sein muss. Er muss sich ständig genau überlegen, welche Konsequenzen eine Entscheidung haben kann. Wenn in einem solchen Moment schon einiges auf Spitz und Kragen steht, das Wetter schlecht ist, die Moral unterm Gefrierpunkt, die Ausrüstung ungenügend, dann erledigt die Gruppendynamik den Rest und die Tour ist zum Scheitern verurteilt.

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Lucas legt ausserdem Wert auf eine gesunde Work-Life-Balance. Während der Lehre zum Metallbauschlosser hat er nie begriffen, warum die Pausen nur fünfzehn Minuten dauerten. Damals war für ihn bereits klar, dass er, wenn er einmal selbständig sein sollte, mindestens eine halbe Stunde Pause machen wird. Die Mittagspause darf ruhig nur eine Stunde dauern, damit die Arbeit dann um 16 Uhr erledigt ist. Ausserdem möchte er maximal 80 Prozent arbeiten, denn einen 100 Prozent Job würde er nicht überleben.

Wenn Lucas erzählt, wie viel Freude ihm seine Arbeit als Bergführer bereitet, glaubt man ihm jedes Wort – auch wenn draussen gerade ein Schneesturm über die Schweiz fegt und eisige Luft aus dem Norden die Frage aufwirft, wie man Schnee und Kälte toll finden kann. Lucas meint dazu, dass man ja meist von gutem Wetter ausgeht. So wie vorgestern, als er mit einer Schulklasse der Ecole d‘Humanité eine Schitour auf 2400 Metern Höhe unternommen hat: «Mega Aussicht, super Schnee, glückliche Jugendliche. Hey, eine bessere Arbeit gibt es nicht. Andere bezahlen dafür. Ich verdiene damit meinen Lebensunterhalt!»

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PS: Auf meinem Weg zum Interview mit Lucas kämpfte ich mit meinem Fahrrad gegen den eiskalten Nordwind. Vereinzelt fielen Schneeflocken auf die Strasse, die sogleich vom Winde verweht wurden und eigenartige Muster bildeten. Meine erste Frage an Lucas war klar: «Was treibt dich bei solchem Wind und Wetter auf irgendwelche Gipfel, wo es höchstwahrscheinlich noch garstiger ist als hier im Tal?» Lucas‘ Augen strahlten, als er mir versuchte, seine Gefühlswelt beim Klettern und Tourenführen zu beschreiben. Seine Geschichte zeigt, wie schon sein ganzes Leben lang klar war, wo er sich am wohlsten fühlt. Nämlich hoch oben in den Baumkronen, auf Berggipfeln und in steilen Felswänden. Lucas wäre vielleicht verkümmert, hätte man ihn nicht machen lassen. Auch wenn ich als Schönwetterwanderin nicht alle seine Leidenschaften teilen kann, wirkt Lucas‘ Faszination für alles Hohe und Eisige ansteckend.

 

Ich danke Lucas für das anregende Gespräch am 22. Februar 2013 in einem Café in Lenzburg.

Text: Barbara Sorino

 

Fotos: Lucas Iten (Bergfotos, Werkstattfoto) und Barbara Sorino (Porträt)

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